Macht das. Kümmert Euch um eine Vorsorgevollmacht.
Das ist wichtig.
Viel wichtiger als Midi, DMX, Elektronik oder der ganze andere Schund
<TL><DR>: Vorsorgevollmacht, Patientenverfügung etc. Was ich in den letzten Jahren erlebt habe, warum es wichtig ist, sich früh genug darum zu kümmern. Eine andere Form von Inhalt als das, was hier sonst so stattfindet.
Meine Mom hat’s derbe erwischt. Demenz; und zwar nicht die “Mutter is’n büschn tüddelig”-Demenz, sondern die Sorte, die innerhalb kürzester Zeit aus einem lebenslustigen, aktiven Menschen ein teilnahmsloses, verkümmertes Häufchen Elend in Menschenhülle macht.
September 2013: Meine Mutter besucht uns für ein paar Tage in Hamburg. Abends trinken wir Wein und sie erzählt, dass sie manchmal Probleme hat, Dinge in Worte zu fassen. Sie macht sich Gedanken darüber, ob sie dement wird. Nachts wacht sie auf und läuft auf der Suche nach der Toilette in unsere Abstellkammer. Sie weiß ein paar Minuten lang nicht, wo sie ist.
April 2016: meine Mutter ist 67 und ein kompletter Pflegefall.
Die letzten 2 Jahre waren wirklich ziemlich große Scheisse.
Meine Schwester und ich haben die Ereignisse früh zum Anlass genommen, für unsere Eltern eine Vorsorgevollmacht zu erstellen. Meine Schwester für unseren Dad, ich für meine Mom. (Bei Mom war’s haarscharf, weil sie schon hart neben der Spur war aber es ist amtlich beglaubigt, also alles cool).
Das Ausfüllen einer Vorsorgevollmacht geht im Grunde relativ fix. Ankreuzen, unterschreiben, fertig. Vorlagen dafür gibt’s überall. Internet natürlich. Wer keinen Bock auf “Vorsorgevollmacht24” etc. hat, kann auch bei seiner Krankenkasse oder diversen Selbsthilfegruppen anfragen. In Osnabrück ist das z.B. die Alzheimer Gesellschaft Osnabrück e.V. . Die Vorsorgevollmacht kann auch selbst verfasst werden, erfahrungsgemäß ist eine Vorlage aber der bessere Weg, weil die allermeisten Aspekte des Alltags schon irgendwie abgedeckt oder zumindest angesprochen werden. Liest man so eine Vorlage, wundert man sich darüber, was man selber alles vergessen hätte. Fehlt etwas, oder steht etwas drin, mit dem man nicht einverstanden ist, kann man es ergänzen oder streichen. So oder so hat man eine Grundlage, auf der man aufbauen kann. Das ist hundertmal besser, als mit einem leeren Blatt anzufangen.
Man muss keine Angst vor Anwaltssprech haben. Es ist erklärtes Ziel, dass eine Vorsorgevollmacht allgemein verständlich ist. Schaut Euch einfach mal so ein Teil an. Die Einstiegshürde ist niedrig.
Wer so richtig sicher gehen will, lässt das Ding noch beglaubigen. z.B. von einem Notar, vom Hausarzt oder dem MDK oder oder oder. Auch hier: redet mit Euer Krankenkasse. Stellt Euch dumm und fragt einfach. Sagt: “Ich möchte eine möglichst lückenlose Vorsorgevollmacht für meine MutterVaterEltern haben, was muss ich tun, um auch bei Geldangelegenheiten auf der sicheren Seite zu sein?”.
Wenn ihr Euch mit mehreren Geschwistern die Vorsorgevollmacht für eine Person teilen wollt, macht das über einen Notar. Spart Euch die Mühe und die Zeit und fragt gleich einen Profi, nicht das Internet. In der Regel arbeiten Notare hier mit festen Kostensätzen. Das bleibt finanziell also überschaubar. Nehmt einen Notar, dem Ihr vertraut. spart nicht am falschen Ende.
Klärt das mit Euren Geschwistern (sofern vorhanden). Redet offen über das, worum es hier geht: Eure Eltern werden sterben. Redet über Geld. Versprecht Euch, offen und ehrlich zu sein. Haltet Euch daran. Stellt sicher, dass alle Beteiligten die getroffenen Entscheidungen akzeptieren. Sprecht an, wenn Ihr mit einer Sache nicht zufrieden seid. Ihr werdet Euch streiten. Es wird um Geld gehen. Ihr seid nicht die ersten, denen das passiert. Seid schlauer als die Leute vor Euch.
Meine Eltern leben in Osnabrück, ich in Hamburg. Zu den Ärzten, bei denen meine Mutter Patientin ist, habe ich keinen persönlichen Kontakt. Es ist alles ein wenig distanzierter. Auf’m Dorf ist das vielleicht anders, aber in der großstädtischen Lebenskonstellation doch eher die Regel.
Mit einer Vorsorgevollmacht wird i.d.R. ein Arzt Euch gegenüber von der Schweigepflicht entbunden. Ich habe bei allen Ärzten, zu denen meine Mutter geht, eine Kopie der Vollmacht hinterlegt und kann damit problemlos alles fragen, was sie betrifft. Der Vorteil daran ist, dass eben auch der Arzt auf der sicheren Seite ist und es sich hierbei nicht um einen Gefallen handelt, wenn er mit Euch redet. Man merkt das. Es IST einfacher, weil eben klar geregelt ist, dass er Euch komplette Auskunft über den betroffenen Patienten geben darf, ohne gegen die Schweigepflicht etc. zu verstoßen.
Mit der Vorsorgevollmacht war es eine Sache von Minuten, bei der Krankenkasse dafür zu sorgen, dass jegliche Post, die an meine Mom adressiert ist, stattdessen mir zugeschickt wird. Nichts geht verloren, nichts wird vergessen. Man kann das auch irgendwie anders erreichen. Aber dann mit mehr Aufwand. Mit mehr Stress und vermutlich mehr Kosten. Mein Dad ist derzeit noch ziemlich rüstig. Keine Frage, er könnte die Post von der Krankenkasse auch lesen, an mich weiterleiten etc. Aber wozu der Stress? Er hat genug Sorgen. Wir haben geklärt, dass ich mich darum kümmere, also bekomme ich auch die Post. Keiner kann was vergessen, liegenlassen, hassenichesehn. Es IST einfacher so.
Wenn man keine Vorsorgevollmacht besitzt und es passiert etwas, z.B: Schlaganfall, und der betroffene kann nicht mehr für sich selbst entscheiden, dann wird vom Amtsgericht ein Betreuer bestellt, der sich darum kümmern darf. Im rechtlichen Sinne: Dem Betreuer gegenüber sind Ärzte nicht mehr an die Schweigepflicht gebunden, etc. Das seid bei Euren Eltern vermutlich Ihr. Vermutlich. Je nach Familiensituation auch nicht. Auf jeden Fall dauert es. Und es ist eine Entscheidung, die erstmal jemand anderes (der Amtsrichter) trifft. Jemand anderes trifft also die Entscheidung, wer dazu berechtigt ist, sich um einen von Euch geliebten Menschen zu kümmern. Das muss alles nicht sein, wenn man sich früh genug selber kümmert.
Eine Patientenverfügung ergänzt die Vorsorgevollmacht. Das bedeutet: Vorsorgevollmacht ist das Wichtigste, Patientenverfügung ist ein sinnvolles AddOn. Wenn Ihr mit Euren Eltern redet, sprecht darüber, was mal werden soll, falls … Das wird kein schönes Gespräch. Aber es hilft. Wenn Ihr eine Vorsorgevollmacht habt, könnt Ihr im Falle eines Falles regeln, was mit Euren Eltern passieren soll. Wenn eure Eltern z.B. in einem Pflegeheim sind, könnt Ihr bestimmen, dass keine Reanimation gemacht werden soll, falls es zu der Situation kommt. Wenn Ihr vorher offen mit ihnen redet, dann wisst Ihr auch, was sie wollen und DAS ist wichtig. Lasst das Sacken: Was man machen KANN ist das Eine. Aber irgendwann muss man eine Entscheidung treffen, mit der man leben muss.
Es wird viele Menschen geben, die Dir erzählen, was Du tun solltest, was sie tun würden, was irgendwer irgendwann getan hat, der auch in der Situation war. Das kann man sich anhören und sich ggf davon inspirieren lassen. Mehr nicht. Mehr auf keinen Fall. Es gibt nur eine Entscheidung und die triffst Du selbst.
Wenn Du abends ins Bett gehst und die Augen zumachst, musst Du zu Dir selber sagen können: “Es ist alles richtig so.”.
Ach man, Scheisse
[Update, 2.10.2018]
Meine Mom ist am 23.5.2018, also knapp zwei Jahre, nachdem ich den Post verfasst habe, gestorben.
Natürlich ist trotz aller Vorsicht DOCH eingetreten, wovor ich mich selbst gewarnt habe: Wir haben uns um Geld gestritten, wir waren irgendwann nicht mehr einer Meinung, die Nervern lagen komplett blank. Aber: Wir haben uns wieder gefangen. Es ist einfacher, wenn man weiß, worauf man achten muss. Manchmal MUSS man sich streiten, obwohl alle Beteiligten es besser wissen. Wichtig ist, sich hinterher wieder an einen Tisch zu setzen.
Wir haben uns gegen eine Magensonde entschieden. Aus Gründen. Als es dem Ende entgegenging, bin ich jeden Tag im Pflegeheim gewesen, damit das Häufchen Elend, das mal meine Mom war, nicht alleine sein muss. Das war nicht leicht. Man muss schon ziemlich hart drauf sein, um sich bei so einem Anblick nicht zu fragen, ob man tatsächlich alles richtig gemacht hat.
Mal abwarten, wie oft die Erinnerung an diesen Anblick noch wiederkommt.
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